Die drei Leben der Sihlpost
Eine digitale Geschichte von Hochparterre.
Als Ende letzten Jahres an Sihlpost die Hüllen fielen und hinter dem Baugerüst das historische Gebäude zum Vorschein kam, staunte Zürich nicht schlecht: Der denkmalgeschützte Bau bot nämlich nicht das alt vertraute Bild, sondern er überraschte mit einem dunkel, fast schwarz gestrichenen Turm. Damit beginnt die Sihlpost nun schon ihr drittes Leben. Das erste als neue Zürcher Hauptpost begann vor bald neunzig Jahren: Im Dezember 1926 bewilligte die Bundesversammlung den Baukredit von 8,051 Millionen Franken, im folgenden September begannen die Bauarbeiten.
Der Neubau eines Postdienst- und Verwaltungsgebäudes gehörte zur ersten Etappe eines Gesamtprojekts für die Erweiterung des Zürcher Hauptbahnhofs, das die SBB 1924 präsentierten. Direkt beim Bahnhof sollte die Hauptpost der Stadt entstehen und dazu der Kreisdirektion III der SBB Unterkunft bieten. Mit dem Wachstum Zürichs um über 50’000 Einwohner zwischen 1900 und 1925 war die Zahl der jährlich versandten Briefe von 24 auf 67 Millionen angestiegen, und ähnlich gross war der Anstieg bei den Zeitungen und Paketen.
Als Bauplatz war der ehemalige Rohmaterialienbahnhof vorgesehen, ein Grundstück an der Sihl zwischen Bahnhof und Lagerstrasse. PTT und SBB erstellten das Hauptgebäude gemeinsam, dahinter kamen als eingeschossige Bauten die Paketausgabe, der Paketversand, der siebengleisige Postbahnhof sowie ein Nebengebäude mit Autogaragen und Werkstätten zu liegen. Die Architekten waren die Brüder Adolf und Heinrich Bräm, Ingenieur der Eisenbetonarbeiten war Robert Maillart.
Das Hauptgebäude ist 123 Meter lang und sechs Geschosse hoch. Eines der beiden Treppenhäuser ist als markanter Turm ausgebildet. Die Fassade ist in ein enges Fensterraster aufgelöst, damit im Innern an möglichst vielen Stellen Zwischenwände eingeschoben werden können. Die tragenden Teile sind betoniert, an der Fassade ist der Beton unterschiedlich behandelt: im Erdgeschoss gestockt, in den Obergeschossen schalungsroh mit Mineralfarbe gestrichen. Die Gurten der Fensterbänke bestehen aus Muschelkalk, das Walmdach ist mit Walliser Schiefer gedeckt. Der künstlerische Schmuck konzentriert sich auf zwei Steinzeug-Mosaike des Malers Karl Rösch bei den beiden Eingängen.
Die SBB-Kreisdirektion III bezog ihre Büros im 3. bis 5. Obergeschoss im Herbst 1929. Die Post nahm ihren Betrieb nach der Installation der aufwendigen Posttechnik Mitte 1930 auf. Im Erdgeschoss lag die Schalterhalle mit den Brief- und Paketschaltern und der grossen Postfachanlage, flankiert von der Massenannahme und vom Zollamt. Im ersten Stock waren der Briefversand und die Büros des Bahnpostamts untergebracht. Das zweite Obergeschoss diente der Briefausgabe, und auch die Kreispostdirektion hatte hier ihre Büros.
Das Gebäude setzte an der Sihl einen markanten Akzent, der sich in die Reihe der Grossbauten am Fluss fügte: Ein Stück flussaufwärts stand seit 1875 die Kaserne, weiter oben folgten auf der anderen Flusseite das 1928–1934 gebaute Textilkaufhaus Ober und das Unterwerk Selnau des Elektrizitätswerks von 1930.
Die Beförderung von Briefen und Paketen im Gebäude war weitgehend mechanisiert. Die mechanische Beförderung begann beim Briefeinwurf. Steckte jemand einen Brief in den Schlitz, setzte ein Kontakt ein Förderband in Betrieb, das ihn in 50 Sekunden zum Briefversand spedierte, wo ihn eine Maschine stempelte. Am Schalter abgegebene Briefe erreichten den Versand auf einer Hängebahn, die als Ringbahn unter die Decke gehängt war und in Holzkästen Briefe und Pakete bis zu 10 Kilogramm beförderte. Sie war über Lifte mit der Eilzustellung, der Aufgabestelle und dem Eilversand im Erdgeschoss, dem Briefversand im 1. Stock und der Briefausgabe im 2. Stock verbunden. Sie funktionierte ähnlich wie eine Rohrpost: Mit einem Wähler «wie beim automatischen Telephon» konnte die gewünschte Zielstation eingegeben werden. Aus dem Briefversand im 1. Stock spedierte ein Schaukelförderer Briefe und Drucksachen zu den Vorsortierstellen. Die 126 Transportschaukeln waren in verschiedenen Farben gestrichen und bedienten unterschiedliche Ziele. Weitere Förderanlagen gab es für eingeschriebene Briefe und für die Paketpost.
Alle diese Anlagen waren eine Herausforderung für die Statik des Gebäudes. Damit sie Platz hatten, musste man auf massive Deckenunterzüge verzichten. Um die hohen Lasten dennoch über grosse Spannweiten ableiten zu können, bildete Robert Maillart die Decken bis in die zweite Etage als Pilzdecken aus. Dies machte wiederum die zahlreichen Deckendurchbrüche zu einer anspruchsvollen Aufgabe. Bei ihrer Eröffnung war die Sihlpost eines der weltweit modernsten Postgebäude.
Weil sich der Postverkehr seit der Eröffnung der Sihlpost verdoppel hatte, begann die Post Mitte der 1950er-Jahre mit der Planung eines Erweiterungsbaus an der Lagerstrasse. Schliesslich kam eine Arbeitsgruppe von PTT und SBB zum Schluss, dass nur die Aufsplittung von Brief- und Paketpost das Platzproblem lösen könne.
Für die Paketverarbeitung im Raum Zürich erstellte die PTT bis 1985 in Mülligen ein Verarbeitungszentrum nach Plänen von Theo Hotz. 1978 begann die Hochbauabteilung der PTT die Projektierung einer neuen Sihlpost für die Briefverarbeitung; vier Jahre später ging der entsprechende Auftrag an die Architektengemeinschaft Sihlpost, zu der sich die beiden grossen Zürcher Büros Stücheli Architekten und Fischer Architekten zusammenschlossen. 1985 begannen die Bauarbeiten, 1988 war als erste der drei Etappen ein Teil des Postbahnhofs fertig. Nach der sukzessiven Betriebsaufnahme war die neue Sihlpost 1992 vollendet.
Der Neubau war in drei Teile gegliedert. An der Lagerstrasse stand auf einer langen Stützenreihe das schmale, mit Naturstein verkleidete Bürogebäude. Dahinter breitete sich auf der ganzen Länge der alten Sihlpost das Betriebsgebäude aus. Sein Markenzeichen war die grüne Fassade aus emailliertem, von hellen Profilen gefasstem Glas. Im Westen schloss der Postbahnhof die Neubauten ab. Als Dach erhielt er einen schweren Betondeckel, auf dem als Teil des Projekts HB Südwest die Wohnüberbauung Lagerstrasse entstehen sollte.
Der Betriebstrakt war so konzipiert, dass er auf Veränderungen in der Posttechnik reagieren konnte; bis mindestens ins Jahr 2020 sollte er seine Aufgaben erfüllen. So dachte man. Im Neubau wurden das Annahmeamt, die Briefausgabe und der Briefversand, die Eilzustellung, das Bahnpostamt und der Autodienst mit Fahrzeugen für die Poststellen in der Stadt und der Umgebung untergebracht. Ein neuer Posttunnel verband ihn mit den Perrons im Hauptbahnhof.
Die alte Sihlpost wurde bis 1997 in enger Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege renoviert. Im Erdgeschoss verblieb die Poststelle, das 1. und 2. Obergeschoss wurde für die SBB zu Büros umgebaut. Obwohl der Neubau das vier- bis fünffache Volumen hatte, blieb die alte Sihlpost davor der Hauptbau der Anlage.
Im März 2001 wurde bekannt, dass die Post die Briefverarbeitung neu organisieren will. Die Sihlpost sollte ihre Funktion als Sortierzentrum verlieren. Zwei Jahre später teilte die SBB mit, dass sie zusammen mit Stadt, Kanton und Post ein Entwicklungskonzept für das langgezogene Dreieck zwischen Sihlpost, Lagerstrasse und Gleisfeld erarbeiten wolle. Drei Planungsteams wurden mit der Ausarbeitung eines städtebaulichen Konzepts beauftragt: das Team Theo Hotz, Gigon/Guyer, Burkhalter Sumi aus Zürich, das Team Kees Christiaanse Architects & Planners (KCAP) aus Rotterdam und Devanthéry & Lamunière aus Carouge.
Die Suche nach einem städtebaulichen Konzept war kein Wettbewerb zwischen den drei Teams, sondern ein Workshop-Verfahren, an dessen Ende drei Konzepte standen.
Devanthéry & Lamunière entwarfen eine Blockrandbebauung mit drei grossen begrünten Innenhöfen, die sich stark von der angrenzenden Stadtstruktur abhob. Das Team Hotz, Burkhalter Sumi und Gigon/Guyer schlug eine Blockrandbebauung mit fünf Hochhäusern als Akzenten vor und führte eine mehrfach geknickte Achse ein. Kees Christiaanse entwickelte einen öffentlichen Raum, der den neuen Stadtteil mit der vorhandenen Stadt verknüpfte. Statt präziser Volumen definierte sein Team Baufelder und Spielregeln und schuf so einen Rahmen, der vielfältige architektonische Interpretationen möglich machte. Es legte in der Verlängerung der Postbrücke eine Strassenachse durch das Quartier (die heutige Europaallee); bei ihrem Ausgangspunkt an der Sihl und bei ihrer Einmündung in die Lagerstrasse lagen je ein Platz (Europaplatz und Gustav-Gull-Platz). Dieses Konzept wurde als Basis gewählt und weiterbearbeitet. 2004 lag der Entwurf des Gestaltungsplans «Stadtraum HB Zürich» vor, den der Gemeinderat Anfang 2006 genehmigte.
Damit war die grobe Form festgelegt. Doch wie würde das Quartier aussehen? Schon einen Monat nach der Abstimmung erhielt die Öffentlichkeit darauf eine erste Antwort, als SBB, Post und Stadt die Ergebnisse der ersten Studienaufträge vorstellten. Als Architekt für die Baufelder A und C kürte die Jury Max Dudler, bei der Freiraumgestaltung für das ganze Areal kam das Landschafts- architekturbüro Rotzler Krebs Partner zum Zug.
2009 begann die Überbauung von Baufeld A, die drei Jahre später fertiggestellt war. Inzwischen heisst der künftige Stadtteil «Europaallee», und die Bebauung der übrigen Baufelder erfolgte ab 2013 im Jahresrhythmus. 2020 soll mit Baufeld D der letzte Mosaikstein des neuen Quartiers fertig sein.
Das Baufeld A entspricht in etwa der Fläche der einstigen «neuen» Sihlpost. Drei mit Naturstein verkleidete Gebäude umschliessen einen höher gelegenen Hof, den Campusplatz. Darin steht ein gläserner Neubau, der über die alte Sihlpost hinausragt. Hauptnutzerin ist die Pädagogische Hochschule, die den Glaskubus und zwei Steinbauten belegt; Credit Suisse mietete die bahnseitigen Büroflächen. Im gemeinsamen Sockel, der Bürohaus und Schule verbindet, ist ein Einkaufszentrum mit einer Ladenpassage eingerichtet, die sich zwischen Lagerstrasse und Europaallee aufspannt. Sie ermöglicht – zumindest zu Öffnungszeiten – eine schnelle Verbindung quer durch den Block.
Dass die Häuser diesen gemeinsamen Sockel haben, ist ein Erbe der Vergangenheit: Basis für die Neubauten war nämlich die «neue» Sihlpost, das Briefzentrum von Stücheli Architekten und Fischer Architekten. Als der Wettbewerb für dessen «Umnutzung», wie es damals hiess, stattfand, war das Gebäude gerade mal 14-jährig. Es lag also auf der Hand, die Betonstruktur des Briefzentrums zumindest in den unteren Geschossen zu erhalten. Das statische Raster der Sihlpost von 10,5 Metern definierte also das Raster der Neubauten, und die Bodenplatte des ersten Obergeschosses des Postbetriebsgebäudes legte das Niveau des Campusplatzes fest.
Diese Vorgabe begründete aber auch eine Schwierigkeit des Neubaus: dessen Zweiteilung in ein Oben und ein Unten. Dass diese Trennung in dieser Schärfe am Ende gar nicht nötig gewesen wäre, ist eine Ironie des Planungs- und Bauprozesses. Die oberirdischen Teile der «neuen» Sihlpost wurden nämlich am Ende doch vollständig abgebrochen.
Nach der erneuten Sanierung des Altbaus der Gebrüder Bräm ist im Erdgeschoss wieder eine Poststelle eingezogen. Daneben gab es Platz für einen Laden und zwei Restaurants. In die Obergeschosse zieht im März die KV Business School mit einem Bildungszentrum ein.
Und was hat es mit der dunklen Turmfarbe auf sich? Dies sei die ursprüngliche Farbe gewesen, hätten die Befunde ergeben, sagt die Denkmalpflege. Mit dem dunklen Farbton, den man zusammen mit der Denkmalpflege bestimmt habe, wollte man ein neues Zeichen setzen, sagen die Architekten. Tatsächlich zeigte der Befund von Fontana & Fontana aus Rapperswil-Jona, dass der dunkle Farbton der erste war, der auf den Turm aufgebracht wurde. Aber war das auch die ursprüngliche farbliche Fassung? Hat man den Turm nicht gleich zu beginn mehrmals gestrichen? Denn auf keinem einzigen historischen Foto hat die Sihlpost einen so dunklen Turm. Auf etlichen Aufnahmen ist er zwar etwas dunkler als das übrige Gebäude, doch bloss eine Nuance. In der aktuellen Ausgabe von Hochparterre geht ein «Gerichtsprozess» mit Zeugen und Experten der Frage nach: «Welches ist die richtige Farbe?». Das Urteil lautet: «Umstreichen!»
Noch immer ist die Post Zürichs Hauptpost, doch Briefe sortiert werden hier nicht mehr. Im dritten Leben der Sihlpost spielt die Postnutzung nur noch eine verschwindend kleine Rolle. Auch wenn am Turm gelbe Lettern auf zu dunklem Hintergrund gross verkünden: POST.
- «Der Farbstreich»: Seit der Sanierung der Zürcher Sihlpost sticht der dunkel gestrichene Turm ins Auge. Das sei die ursprüngliche Farbe, heisst es. Doch das ist falsch. Eine Gerichtsverhandlung und ein Urteil. Text und Fotos: Werner Huber, Gerichtssekretär: Köbi Gantenbein. Lesen Sie die Geschichte in der aktuellen Ausgabe von Hochparterre.
- «Hauptbahnhof Zürich 1847-2015». Von Werner Huber, herausgegeben von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK, Verlag Scheidegger und Spiess, 2016. Das Buch stellt die Planungs- und Baugeschichte des Zürcher Hauptbahnhofs von den Anfängen bis zur Gegenwart in Text und Bild umfassend dar. Jetzt bestellen bei Hochparterre Bücher.
Text: Werner Huber
Pläne: Werner Huber
Produktion: Werner Huber, Urs Honegger
Copyright: Hochparterre 2016